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Vom Risiko der Fitness 2

Oder die heiteren Invaliden.

 

»No Sports, only whisky«

(W. Churchill, die Frage nach dem Grund für sein hohes Lebensalter beantwortend)

 

Teil 2

Nach all dieser Lektüre war Jogging bzw. Dauerlauf für mich eigentlich erledigt, bis ich um Weihnachten 1984 herum wiederum im «New England Journal of Medicine» auf einen Leserbrief dreier Ärzte aus dem Kantonsspital Liestal stiess, der meinem Interesse an dieser Sportart gewissermassen einen runden Abschluss gab. Die Herren Itin, Hänel und Stalder vermittelten, wie es wissenschaftlicher Brauch ist, zunächst eine Übersicht über die bisher in Erfahrung gebrachten Komplikationen, die mit dem Joggen verbunden sind: Muskel- und Knochenverletzungen, Herzattacken, Asthma, Ausbleiben der Monatsregel bei Frauen, Erfrierungen, Hitzschlag und Blutarmut, um dann erst die Katze aus dem Sack zu lassen: Vogelangriffe auf Jogger! In den vergangenen zwei Jahren hätten sie zwölf Jogger behandeln müssen, die Opfer rabiater Mäusebussarde geworden seien. Die Vögel pflegten hinterrücks im Sturzflug anzugreifen und mit ihren Krallen auf der Kopfhaut der Gesundheitsfanatiker bis zu 14 cm lange messerschnittartige Kratzer und Risse zu hinterlassen. Neben der Wundversorgung wurde zur Tetanusimpfung geraten. Nur unterstreichen kann man den Satz, mit dem die Liestaler Ärzte ihren Brief schlossen:

 

»Jogger sollten sich bewusst sein, dass die Natur ihre eigenen Gesetze hat und kein unbefugtes Eindringen gestattet, ohne Rache zu nehmen.«

Verwirrend bei der Lektüre all dieser grausigen Fälle war allerdings, dass die Verfasser trotz allem nicht müde wurden, die segensreichen Wirkungen des Sports auf Körper und Seele hervorzuheben. Selbst Arbeiten mit ausführlichen Statistiken über den plötzlichen Herztod beim Sport münden regelmässig in der Empfehlung der Autoren, vom Fitnesstraining nicht zu lassen. Sollte es Sportarten geben, die weniger riskant, einer beschaulichen Wesensart angemessener wären? Ich dachte an Kricket, an Golf, unter Umständen sogar an Kegeln, da diese körperlichen Betätigungen irgendwie ruhiger, gesitteter und weniger aufgeregt als das Jogging zu sein schienen. Doch hat mich die prophylaktische Konsultation medizinischer Fachliteratur ebenso wie die tägliche Anschauung in der täglichen Röntgenbesprechung davor bewahrt, diesem Trug zu erliegen. Einem Fachbuch über «Sportverletzungen - Radiologie und Pathogenese» von J. W. Bowerman ist zu entnehmen, dass bei einem Kricketspiel des Westindian National Team einer seiner schnellen Werfer drei Schläger am Kopf verletzt hatte und zwei andere Schläger Handgelenkfrakturen durch fliegende Kricketbälle erlitten hatten. Ein Freund des Verfassers war als Schiedsrichter von einem hart geschlagenen Ball getroffen worden und musste mit einer Schädelfraktur eingeliefert werden. Wie man leicht ausrechnen kann, liegt somit bei nur elf Spielern pro Mannschaft die zu erwartende Ausfallrate deutlich über dem noch eben annehmbaren Limit.

Blieb also Golf oder Kegeln. Dem ahnungslosen Beobachter wird es nicht schwerfallen, für Golf eine gewisse Sympathie zu empfinden, scheint es doch eher eine Gelegenheit, ansehnliche Kleidung auszuführen und über die Angelegenheiten der Welt zu plaudern, als ein Anlass, sinnlos ins Schwitzen und somit in Gefahr zu geraten. Doch sind Golfschläger und -ball weniger Sportgeräte als vielmehr Waffen und Geschosse, die ihre Opfer fordern sowohl unter denen, die sie handhaben, wie unter denen, die dabei zusehen. Der oben zitierte J. W. Bowerman berichtet:

»Ein kraftvoll ausgeführter Schlag kann gelegentlich den Golfspieler auf verschiedene Weise verletzen. Zunächst kann der Spieler bei einem vollen, ungehinderten Schlag plötzlich einen Schmerz verspüren. Der Verfasser hat zum Beispiel gesehen, wie sich ein Abriss des Sitzbeinhöckers (Teil des Beckenknochens) auf diese Weise ereignete. Zweitens kann der Golfspieler statt des Balles den Boden treffen, das Schlägerende in den Sand schlagen oder statt des Balles irgendein anderes Objekt fortschleudern. Torisy berichtet über eine isolierte Handwurzelfraktur bei einem 54jährigen Mann, der am Ende des Schlages einen heftigen Schmerz spürte. Schrägaufnahmen zeigten eine Fraktur des Hamulus ossis hamati.«

Selbst Personen, die über die Lage des Hamulus ossis hamati in ihrem Körper nicht genau orientiert sind, wünschen zweifellos, ihn sich intakt zu erhalten. Golfbälle übrigens sind selbst in ruhendem Zustand etwa so ungefährlich wie eine Handgranate. Da das Innere des Balles unter Druck steht, explodieren sie beim Versuch, sie zu öffnen - und das kann auch ins Auge gehen, wie neugierige Kinder haben erfahren müssen. Unter den Gelegenheiten für plötzliche Todesfälle beim Sport, die von 1975 bis 1981 im amerikanischen Bundesstaat Rhode Island registriert wurden, rangierte Golf mit deutlichem Abstand an der Spitze. Dies dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass diesem Sport Personen meist gesetzteren Alters huldigen, deren körperliche Aktivitäten sich besser auf das Lustwandeln in gepflegten Parkanlagen beschränken würden. Bei der Hatz über das Green sind dagegen koronare Zwischenfälle, wie die Statistik belegt, unvermeidlich. Was das Squash-Spiel betrifft, dem vorab Fitnessbewusste mit wenig Freizeit huldigen, wird von ärztlicher Warte wenigstens Einäugigen der Verzicht empfohlen. Der schwarze Gummiball, der Geschwindigkeiten bis zu 160 km/h er-reicht, ist exakt auf die Grösse der menschlichen Augenhöhle zugeschnitten. Obwohl das Kegelspiel schon aus ästhetischen Gründen mich nicht zu begeistern vermag - mit Kegeln verbinden sich der Geschmack von abgestandenem Bier und der Geruch billiger Räucherware -, ist es doch einer näheren Betrachtung wert. Auf den ersten Blick hat es Vorzüge, findet es doch an geschützter Örtlichkeit statt, ist den Launen des Wetters nicht preisgegeben und scheint nicht allzu anstrengend zu sein. Scheint! Denn nicht selten kommt es vor, dass ein Kegelspieler beim Aufsetzen der Kugel an der Startlinie ausrutscht, seine Adduktoren - das sind die Muskeln, die das Bein zur Körpermitte heranziehen - überbeansprucht und schliesslich nicht weniger als die Lust am Leben verliert. Bowerman berichtet:

»Einer dieser Kegelspieler musste wegen dieser Verletzung operiert werden, da der Ursprung des Adduktor longus rupturiert, ein Fragment des absteigenden Schambeinastes ausgebrochen und die Gefässe für den rechten Hoden zerrissen waren. Die Schwere der Verletzungen von Samenstrang und Hoden machten die Entfernung dieser Organe notwendig.«

Man wird mir wohl zustimmen, wenn ich behaupte, dass dies eine unnötige Verminderung von Körperteilen darstellt.

Wie steht es denn um jene Individuen, die sich auf einen Sattel schwingen und das Treiben der Welt von oben betrachten? Fahrräder können von berückender Eleganz sein. Es ist zu begreifen, dass ein Mann, der die Schönheiten der Mechanik zu schätzen weiss, dem leise sirrenden Lauf eines Hinterrades völlig erliegen kann. Man kann ihn deswegen nicht verurteilen. Jedoch: Wer radelt, lebt gefährlich. Es wird häufig verdrängt, denn in Bild und Wort steht vor allem das Radfahren in der Freizeit für entspannt erworbene Fitness, für fröhlichen Kampf gegen Kreislauferkrankungen, für Genuss im Stil von Leichtbier und linksdrehendem Fruchtjoghurt: eben «ride light», wie es in der Werbung eines Herstellers heisst. Doch genügt es, ein Fahrrad zu besitzen, man muss es nicht unbedingt auch noch besteigen. Wozu der Gebrauch eines Fahrrads im Freien führen kann, zeigt folgendes Beispiel:

»Ein knapp 30jähriger Mann, begeisterter Fahrradfahrer, hatte nach einem harten Sturz vom Rad einige Tage lang heftige Bauchschmerzen, die später jedoch verschwanden. Einige Jahre danach verspürte er, wiederum beim Radfahren, schon nach kurzer Anstrengung starke Schmerzen in Gesäss und Oberschenkel, Beschwerden also, wie sie gewöhnlich bei langjährigen Kettenrauchern aufzutreten pflegen. Eine daraufhin durchgeführte Computertomographie zeigte bei diesem Patienten eine hochgradige Einengung der Bauchschlagader, die man sich so erklären muss, dass es damals beim Sturz vom Fahrrad zu einem Riss der Gefässwand gekommen war, wodurch das Gefäss zunehmend vernarbte, sich verengte und somit den Blutfluss in die untere Körperhälfte schwer behinderte. «

Was die sonstigen Gefahren des Radfahrens angeht, erteilt ein Buch von J. R R. Williams, «Sportverletzungen -Symptome erkennen, richtig reagieren», die gewünschte Auskunft:

»Langes Sitzen auf dem Sattel kann bei Männern zu Verletzungen der Genitalien, gelegentlich zu einer Verdrehung der Hoden führen. Auch wenn die Hoden wieder umgedreht werden können, sollte man sofort den Arzt aufsuchen, besonders wenn die Schmerzen andauern. Es besteht die Gefahr einer permanenten Unfruchtbarkeit, und wenige Stunden Verzögerung sind ein entscheidender Faktor. Ein anderes peinliches Problem ist der Priapismus (eine anhaltende Erektion des Penis). Vielfach genügt es, vom Fahrrad zu steigen, um den Zustand zu beheben; wenn er hingegen andauert, muss ärztlicher Rat eingeholt werden. Als Ursache für den Priapismus nimmt man einen Druck entweder auf die Nerven oder auf die den Penis versorgenden Blutgefässe an.«

Wem also die Anordnung seiner Testikel durchaus richtig und keiner Neuorientierung bedürftig zu sein scheint, sollte sich somit auch dieser Sportart enthalten. Bei der Gelegenheit nimmt man mit Interesse zur Kenntnis, dass es in Sportlerkreisen offenbar Brauch ist, bei Erektionen den Arzt aufzusuchen.

Dass auch andere Sportarten in diesem sensitiven Bereich durchaus fatale Folgen haben können, ist bekannt. Über Fussball braucht man sich in Anbetracht zahlloser Kreuzbandrisse, Meniskusläsionen und Splitterbrüche im Knöchelbereich nicht weiter zu unterhalten; das angegebene Beispiel erläutert einen bei dieser Sportart häufigen Zusatzbefund: der junge Mittelstürmer wurde bei seinem Vorwärtsdrang vor dem gegnerischen Tor mit nicht ganz fairen Mitteln zum Stillstand gebracht und zog sich einen massiven Bluterguss seines Hodens zu. Eine spätere Infektion des Hämatoms führte zu einem Hodenabszess und letztlich zur Entfernung des Organs.

Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich fernöstliche Kampfsportarten. Zumindest teilweise verdanken sie ihre Popularität gewissen Filmen, in denen asiatische Herren unter Abgabe unverständlicher Schreie mit ihren Händen in der Gegend herumfuchteln, bis sich rundum nichts mehr regt. Ist Karate also das richtige? Selbst wenn man das Schreien unterlässt, bleiben da gewisse Zweifel. Wiederum Bowerman:

»Einige Karateanhänger ruinieren ihre Hände und Füsse, indem sie damit über Jahre hin gegen einen strohgepolsterten biegsamen Pfosten (Makiwara) schlagen. An den geschädigten Partien bildet sich Narbengewebe, besonders an den Grundgelenken der Langfinger. Gardner erwähnt beispielsweise einen 19jährigen Heerespolizisten, der als begeisterter Karateteilnehmer dauernd am Makiwara übte; auch schlug er mit seiner Hand immer wieder gegen einen mit Sand und Kies gefüllten Sack. Nach einigen Monaten bildete sich eine Schwellung an den Metakarpophalangeal-Gelenken aus. Er konnte die Finger nicht mehr ohne starken Schmerz flektieren und war ausserstande, militärisch zu grüssen.«

Nun mag es Personen geben, die der Fähigkeit zum militärischen Gruss entraten können. Wer sich jedoch die Beweglichkeit seiner rechten Hand zu erhalten wünscht, für den ist Karate nichts. Aber Judo? Ist es nicht die elegante, gelenkigere, weniger zackige Kampfsportart - und sei es nur, weil dabei weniger geschrien wird? Auch hier weiss Bowerman es besser. Auch für den, der nicht alles versteht, sollte das, was er versteht, reichen:

»Szasza und Mitarbeiter studierten die Folgen des Würgens beim Ju-do durch radiokinematographische Aufzeichnungen von Lungen und Herz sowie elektrokardiographische Kurven während des Würgegriffs. Sie stellten fest, dass mit andauernder Strangulation die Herzsilhouette kleiner wurde und beim Eintritt der Bewusstlosigkeit am kleinsten war. Nach dem Aufwachen kehrte die Herzsilhouette innerhalb von 10 Sekunden zur Norm zurück. Gleichzeitige Plethysmographie ergab, dass die Durchblutung der Arme bei der strangulierten Person vermehrt war. Elektrokardiographisch zeigte sich eine Bradykardie während der Bewusstlosigkeit. Der Untersucher schliesst daraus, dass verminderter venöser Rückfluss zum Herzen Hauptursache der Symptome beim Würgen darstellt.«

Nun kann man sich natürlich sagen, dass man davon als praktizierender Würger ja nicht unbedingt selber betroffen ist. Doch da auch im Judo gilt, dass nur die Übung den Meister macht, muss man sich zu den möglichen Opfern der üblichen Judo-Verletzungen rechnen, wozu die Sprengung des Schultereckgelenks, der Schlüsselbeinbruch, die Schultergelenkverrenkung, gebrochene Rippen oder das Blumenkohlohr zählen, das fast so hübsch aussieht, wie es sich anhört.

Der Leser wird bemerkt haben, dass sich die Lektüre medizinischer Fachzeitschriften mitunter nicht ganz einfach gestaltet. Ärzte neigen dazu, die menschlichen Körperteile mit Namen zu versehen, in denen man oft schwer seine eigenen Glieder wiedererkennt. Und da diese bei Ausübung sportlicher Tätigkeiten von Verletzungen und Krankheiten heimgesucht werden, kann sich das Verständnis einer Diagnose erheblich komplizieren. Mit einem klinischen Wörterbuch wie dem «Pschyrembel» kommt man allerdings ganz gut zurecht, wenn auch der Zeitaufwand beträchtlich sein kann, nur schon einen Titel zu übersetzen wie den, den die «Schweizerische Medizinische Rundschau» (Nr. 50, 1986) publizierte:

»Hämorrhagische Kolitis, Gastritis bei Hämaturie und Rhabdomyolyse bei einer Joggerin: Ein globales Ischämiesyndrom?«

Das Wort Joggerin allein ist Anreiz genug, der Sache auf den Grund zu gehen. Die 34jährige trainierte Langstreckenläuferin, über die berichtet wurde, litt im Anschluss an ein wegen Bauchkrämpfen vorzeitig aufgegebenes Rennen an blutigen Durchfällen, musste Blut erbrechen, hatte blutigen Urin und wies Zerstörungen von Muskelfasern auf. Die Ärzte der Medizinischen Klinik und des Instituts für Pathologie am Kantonsspital Winterthur, die über diesen interessanten Fall zu Tische sassen, vermuteten ein generelles Minderdurchblutungssyndrom aufgrund von Gefässkontraktionen in während des Rennens nicht benötigten Gebieten des Körpers. Man kann es auch einfacher ausdrücken: Der jungen Frau fehlte zum Leben das, was sie zum Rennen brauchte.

Die Autoren vergassen nicht hinzuzufügen, dass im Anschluss an Marathonläufe bei bis zu 22 Prozent der untersuchten Läufer Blut im Stuhl nachgewiesen werden konnte - Folge von Magen- und Darmblutungen, die in einem Fall sogar zum Tod geführt hatten.

Sind noch Beweise nötig? Sind der Beispiele nicht genug? Es gibt Leute, denen die Gefahren des uns eigenen Elements, des sicheren Bodens, auf dem wir stehen, nicht reichen. Sie versuchen sich im Drachenfliegen oder Surfen, stürzen ab, brechen Hals und Bein, ertrinken. Nur schon das Gleiten mit Brettern auf Schnee birgt Risiken, auf die einzugehen der Kluge von vornherein verzichtet. Abschliessend sei aus der eigenen Erfahrung der Fall einer jungen Frau zitiert, die sich in einem Fachgeschäft neue Skischuhe anpassen liess. Sie stand kaum 12 Minuten in der Schaumgummifüllung, als sie ohnmächtig wurde. Ursache war ein Bewusstseinsverlust infolge einer Beeinträchtigung des venösen Blutrückflusses und einer Senkung des Blutdruckes nach längerem Stehen in einer fast bewegungslosen Körperhaltung. Beim Sturz kam es zum Bruch des Wadenbeins. Nach Anlegen eines Gehgipses und nachdem die Patientin eine Beinvenenthrombose mit anschliessender Lungenembolie gut überstanden hatte, war der Heilungsverlauf befriedigend. Von ihrem verwegenen Vorhaben des Skilaufens hat die Patientin Abstand genommen. Wir wollen sie grüssen.

 

Verfasser: Dr. G. Stuckmann